«Keiner von uns hier ist Sklavenaufseher in einem Konzentrationslager gewesen, und wir haben niemanden in den Verbrennungsofen geschickt. Aber wir sind dennoch, auch wir, in gewisser Weise für diese Greuel verantwortlich. Das geht uns alle an! [...] der „konzentrationäre Geist“, wenn ich so sagen darf, hat in gewisser Weise uns alle befleckt. Wir sind befleckt. Der europäische Geist ist befleckt [...]. es genügt nicht, die Sklavenaufseher zu waschen, es genügt nicht, diejenigen zu waschen, die unmittelbar verantwortlich gewesen sind. Das kann nicht genügen. Wir müssen in uns selbst töten, was uns zu der gleichen Schande führt, was uns dahin führen könnte. Ich meine: die Preisgabe des Geistes der Wahrheit». Und daran kann der europäische Geist sterben. Auf diese Weise führte Jean Guehénno seinen Vortrag bei den Rencontres internationales ein – ein Treffen, das in Genf vom 2. bis zum 14. September 1946 stattfand, zu einem Moment also, da das Gesicht Europas noch vom Hitlertum gezeichnet war, wie Denis de Rougemont erklärte: «Hitler: besiegt und mit Öl verbrannt, trotzdem bleibt, ausser Hitler, beinahe alles.» Das Gespenst des Totalitarismus, das nur sechs Monate zuvor noch Europa beherrscht hatte, war also weiter der erste Feind, den es zu schlagen galt. Nach der tragischen Offenbarung der Vernichtungslager, die das „versteckte Gesicht des Totalitarismus“ gezeigt hatten, galt es – so Jean Starobinski – «Europa neu zu erfinden, durch den Rückgriff auf eine andere Vergangenheit zu erneuern, die Züge eines entstellten Gesichts wiederzufinden; aber auch die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus zu sehen, eine Zukunft in Freiheit zu denken. In der Erwartung, dass die Staaten neue Regeln für das Zusammenleben festlegen, war es notwendig, einen Ort anzubieten, der die Diskussion förderte, indem er die Möglichkeit des Dialogs neu entstehen ließ».

Europa -wohin soll es gehen? Jaspers bei den Rencontres internationales de Genève (1946)

ACHELLA, STEFANIA
2013-01-01

Abstract

«Keiner von uns hier ist Sklavenaufseher in einem Konzentrationslager gewesen, und wir haben niemanden in den Verbrennungsofen geschickt. Aber wir sind dennoch, auch wir, in gewisser Weise für diese Greuel verantwortlich. Das geht uns alle an! [...] der „konzentrationäre Geist“, wenn ich so sagen darf, hat in gewisser Weise uns alle befleckt. Wir sind befleckt. Der europäische Geist ist befleckt [...]. es genügt nicht, die Sklavenaufseher zu waschen, es genügt nicht, diejenigen zu waschen, die unmittelbar verantwortlich gewesen sind. Das kann nicht genügen. Wir müssen in uns selbst töten, was uns zu der gleichen Schande führt, was uns dahin führen könnte. Ich meine: die Preisgabe des Geistes der Wahrheit». Und daran kann der europäische Geist sterben. Auf diese Weise führte Jean Guehénno seinen Vortrag bei den Rencontres internationales ein – ein Treffen, das in Genf vom 2. bis zum 14. September 1946 stattfand, zu einem Moment also, da das Gesicht Europas noch vom Hitlertum gezeichnet war, wie Denis de Rougemont erklärte: «Hitler: besiegt und mit Öl verbrannt, trotzdem bleibt, ausser Hitler, beinahe alles.» Das Gespenst des Totalitarismus, das nur sechs Monate zuvor noch Europa beherrscht hatte, war also weiter der erste Feind, den es zu schlagen galt. Nach der tragischen Offenbarung der Vernichtungslager, die das „versteckte Gesicht des Totalitarismus“ gezeigt hatten, galt es – so Jean Starobinski – «Europa neu zu erfinden, durch den Rückgriff auf eine andere Vergangenheit zu erneuern, die Züge eines entstellten Gesichts wiederzufinden; aber auch die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus zu sehen, eine Zukunft in Freiheit zu denken. In der Erwartung, dass die Staaten neue Regeln für das Zusammenleben festlegen, war es notwendig, einen Ort anzubieten, der die Diskussion förderte, indem er die Möglichkeit des Dialogs neu entstehen ließ».
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